Die Kloakenekstrophie

Die Kloakenekstrophie (KE) ist eine der seltensten und am schwierigsten zu behandelnden Fehlbildungen die es gibt. Die Häufigkeit liegt bei etwa 1 auf 250.000 Kinder. In Deutschland werden nicht mehr als 3-5 Kinder pro Jahr mit KE geboren. Eine eindeutige Ursache für das Entstehen einer KE ist nicht bekannt. Jungen sind doppelt so häufig betroffen wie Mädchen.

Die KE besteht immer aus der Kombination folgender Fehlbildungen (Abb.): eine Blasenekstrophie mit zweigeteilter Blase, eine Epispadie bei oftmals gespaltenem äußeren Genitale, oder bei Mädchen eine gespaltene Klitoris, einem zu kurzen Dickdarm, wobei der Anfangsteil des Dickdarmes (Zoekum) zwischen den Blasenhälften ebenfalls offen ist, eine Analöffnung ist nicht vorhanden, das heißt, es liegt eine Analatresie vor und ein gespaltenes Becken, die Schambeinäste sind nicht miteinander verbunden. Dazu kommen fast immer Begleitfehlbildungen anderer Organsysteme, z.B. Fehlbildungen der Nieren und der Harnleiter, des inneren Genitales bei Mädchen (Scheide und Gebärmutter), Fehlbildungen der Wirbelsäule, des unteren Rückenmarkes und der untersten Rückenmarksnerven, sowie Anomalien der Beine. Daraus ergeben sich eine Vielzahl sehr schwerwiegender Probleme, die im Folgenden einzeln besprochen werden.

Die Behandlung von Kindern mit KE ist außerordentlich schwierig und komplex. Die ersten Berichte überhaupt, die es über erfolgreiche Behandlungen gibt, stammen aus den 60’ Jahren. Vor 1990 ging es bei der Behandlung von Kindern mit einer KE fast nur um eine mehr oder weniger akzeptable anatomische Korrektur der Anomalie. Auf Eingriffe, die es dem Kind ermöglichten kontinent zu sein wurde generell verzichtet. Der Urin und Stuhl wurde über künstliche Ausgänge („Stomas“) abgeleitet und in Beuteln aufgefangen. Heutzutage möchte man neben der rein anatomischen operativen Korrektur der Fehlbildungen auch eine funktionelle Verbesserung schaffen. Erfahrene Chirurgen versuchen die vorhandenen Organe soweit möglich zu erhalten und durch zusätzliche Operationen, insbesondere an der Blase, kontinente Verhältnisse zu schaffen.

Pränatale Diagnostik

In einigen Fällen kann die Diagnose bereits vor der Geburt (pränatal) gestellt werden. Durch eine Ultraschalluntersuchung kann man in einigen Fällen bestimmte Fehlbildungen erkennen, die einen Rückschluss auf die Diagnose einer KE zulassen. Selbstverständlich muss der Pränatalmediziner die Erkrankung als solches kennen und überhaupt an die Möglichkeit denken, dass eine solche Fehlbildung vorliegen könnte. Falls die pränatale Diagnose einer KE gestellt wird, sollten die Eltern mit einem Chirurgen sprechen, der ausreichend Erfahrung in der Behandlung von Kindern mit KE hat, und die Eltern eingehend und differenziert beraten kann.

Das Neugeborene mit KE

Nachdem ein Kind mit KE geboren wurde sollten mehrere Aspekte in Betracht gezogen werden. Die KE ist an sich kein Notfall!!! Kein Kind mit KE muss daher „mitten in der Nacht“ operiert werden! Die Blase kann offen liegen bleiben, der Urin entleert sich immer sehr gut und wenn ein Antibiotikum gegeben wird kann auch keine Entzündung der Nieren entstehen. Der offene Darm ist letztendlich nichts anderes als ein Darmstoma!!! Der sogenannte „offene Darm“ liegt ja nicht in seiner Gesamtheit frei, sondern nur die Darmschleimhaut liegt außen an der Oberfläche frei, eben genau wie bei einem Anus praeter (künstlich geschaffener Darmausgang, bzw. Darmstoma). Auch der oft vorhandene Bauchwanddefekt (Omphalozele) muss so gut wie nie sofort operiert werden! Im Gegenteil, es ist viel schwieriger die Omphalozele zu verschließen wenn nicht gleichzeitig mit dem Verschluss auch das Becken und die ekstrophierten Organe (Blase und Darm) verschlossen werden.
Man sollte die offene Blase und den Darm nur mit Zellophanfolie oder feuchten Kompressen abdecken und ein Antibiotikum geben. Die Kinder können dann ganz normal Muttermilch trinken oder andere Nahrung zu sich nehmen. Den Eltern sollte die Möglichkeit gegeben werden sich mit einem Experten über die Behandlung ihres Kindes zu beraten.
Niemals sollten voreilige operative Schritte durch unerfahrene Ärzte unternommen werden, da sich auch aus kleinsten Fehlern oft sehr große Konsequenzen für das Kind ergeben können, z.B. Entfernen des kurzen Dickdarmes, was zu lebenslanger Stuhlinkontinenz führen kann.

Die erste operative Behandlung

Bei Kindern mit KE führe ich im Neugeborenenalter eine fast komplette, vollständige Rekonstruktion durch. Der Darm wird verschlossen und alle Teile des Dickdarmes, auch wenn er sehr kurz ist, werden zusammengeführt und gemeinsam im Analbereich (also dort wo man den Anus vermuten würde) ausgeleitet, also nicht als Darmstoma im Bereich der Bauchwand. Dann werden die Blasenhälften zusammengefügt und verschlossen. Bei großen Blasenhälften versuche ich eine Blasenhalsplastik durchzuführen, dies ist jedoch nicht immer möglich. Dann wird das Becken und die Bauchwand verschlossen indem die Schambeinäste zusammengeführt werden. In einigen Fällen muss hierfür eine Beckenosteotomie durchgeführt werden (die beiden Beckenschaufeln müssen durchgeschnitten werden). Dadurch kann man auch die Omphalozele sehr gut verschließen. Durch dieses Vorgehen können dem Kind viele weitere Eingriffe erspart werden, da weder ein Darmstoma angelegt wird noch verschlossen werden muss, oder separat eine Durchzugsoperation erfolgen muss, bzw. ein separater Blasen- und Beckenverschluss. Das Kind muss daher nach der ersten Operation für einige Jahre nicht mehr behandelt werden, falls nicht andere Probleme entstehen. Es gibt Untersuchungen aus denen hervorgeht, dass Kinder mit KE durchschnittlich 12-mal operiert werden. Einige Kinder hatten allerdings bis zu 24 Operationen im Laufe ihrer Kindheit durchgemacht.
Durch das Vorgehen, das ich anwende ergibt sich auch ein weiterer Vorteil. Die Kinder behalten den ohnehin zu kurzen Dickdarm in ihrer ganzen Länge, so dass sich eine wesentlich größere Chance auf Stuhlkontinenz ergibt. Dazu können sich von Anfang an Defäkationsreflexe (Reflexe für die Stuhlentleerung) entwickeln.

Weitere Operationen

Alle Kinder mit KE müssen im Laufe ihres Lebens weitere Operationen haben, auf die ich noch näher eingehen werde. Die wichtigsten Operationen sind die, um Harnkontinenz zu erlangen, in der Regel eine Blasenvergrößerungsplastik mit Anlage eines kontinenten Stomas, über das die Blase durch intermittierenden Katheterismus entleert wird.

Behandlung der Probleme einzelner Organsysteme

Darmprobleme:

Das häufigste Problem ist Stuhlinkontinenz. Bei einigen Kindern kann eine Durchzugsoperation erfolgen. Das heißt, der Darm wird zum Analbereich hin durchgezogen und dort wie ein Anus ausgeleitet. Fast alle Kinder müssen danach eine gewisse Diät einhalten und evtl. Medikamente einnehmen um den Stuhl fest zu machen. Dazu sind regelmäßige Darmspülungen nötig um den Enddarm komplett zu entleeren („Bowel Management“).
Bei einigen Kindern ist der Dickdarm zu kurz um eine Durchzugs-OP zu machen. Diese Kinder müssen leider mit einem lebenslangen Darmstoma am Bauch mit Beutelableitung leben.
Bei einigen Kindern ist auch der Dünndarm zu kurz. Unter Umständen kann es dadurch zu Resorptionsstörungen von Vitaminen, Blutbildenden Faktoren und Nahrungsstoffen kommen. Alle Kinder mit Dünndarmstoma oder zu kurzem Darm sollten jährlich hinsichtlich solcher Resorptionsstörungen kontrolliert werden. Falls Dünndarm zur Blasenrekonstruktion benutzt wird, sollte der Operateur sicher sein, dass nach der OP genügend Dünndarm vorhanden ist, dass das Kind normal ernährt werden kann und nach der OP nicht ein sogenanntes „Kurzdarmsyndrom“ hat.

Harnwege und Nieren:

Fehlbildungen im Bereich der Nieren und ableitenden Harnwege sind sehr häufig und sollten zielgerichtet behandelt und gegebenenfalls operiert werden. Oberstes Ziel ist immer der Erhalt der Nierenfunktion und die Vermeidung von Harnwegsinfektionen. Um für Urin kontinent zu werden muss in der Regel die Blase mit Dünndarm vergrößert werden und ein kontinentes Stoma geschaffen werden, über das der Urin durch Einführen eines Katheters entleert werden kann (CIC – intermittierender Katheterismus). Diese Operationen sollten vor der Einschulung abgeschlossen sein. Das Kind sollte eingeschult werden, ohne dass weitere größere Operationen im Schulalter notwendig sind.

Genitale:

Bei Knaben ist der Penis fast immer gespalten und klein. Die Harnröhre ist offen im Sinne einer Epispadie. Die Hoden dagegen sind sehr oft völlig normal angelegt und später im Leben auch funktionstüchtig. Eine operative Korrektur des Genitales bei Jungen muss immer durchgeführt werden und sollte im Alter von etwa 2 Jahren erfolgen. Die früher oft durchgeführte „Geschlechtsumwandlung“ bei Knaben sollte auf keinen Fall mehr erfolgen, da man inzwischen weiß, dass sich diese Jungen, die zu „Mädchen“ gemacht wurden in der Pubertät fast immer als Männer fühlen und sich, soweit möglich, „wieder in Männer“ umwandeln lassen. Natürlich ergeben sich viele psychologische Probleme bei Jungen aufgrund der Tatsache, dass der Penis zu klein ist, aber noch größer können die Probleme sein, wenn ein Junge sich als Junge bzw. Mann fühlt, aber gezwungen wurde in der Geschlechtsrolle eines Mädchens bzw. einer Frau zu leben. Darüber hinaus haben Männer mit KE grundsätzlich die Möglichkeit, wenn auch auf künstlichem Wege, Kinder zu zeugen, da die Hoden normal funktionieren.
Bei Mädchen ist die Scheide und Gebärmutter fast immer geteilt bzw. gedoppelt, d.h. das Kind hat zwei Gebärmütter und zwei Scheiden. Fast immer sind die Scheide und die Gebärmutter kleiner als üblich. Daher muss oft ein Scheidenersatz mit Dünndarm durchgeführt werden. Über die Möglichkeit schwanger zu werden liegen keine Erfahrungen vor. Die Eierstöcke, soweit vorhanden, funktionieren aber in der Regel normal und produzieren sowohl Hormone und Eizellen. In der Pubertät, mit eintreten der Regelblutung, können Probleme entstehen, die darauf basieren, dass Menstruationsblut nicht abfließen kann und sich in der Bauchhöhle in Zysten ansammelt. Zusätzlich ist bei Mädchen die Klitoris gespalten, dies hat jedoch allenfalls kosmetische Konsequenzen, aber keine funktionellen. Eine Behandlung der geteilten Klitoris ist daher nicht notwendig.

Wirbelsäulenfehlbildungen:

Fast alle Kinder mit KE haben zusätzliche Anomalien im Bereich der unteren Wirbelsäule, z.B. teilweise Fehlen des Kreuzbeins und Ansammlungen von Fett im Sinne eines lumbosakralen Lipoms oder einer Lipomyelomeningozele. Bei einigen Kindern sind auch die untersten Nerven des Rückenmarkes geschädigt, was z.T. auch zu Problemen beim Laufen führen kann. Die meisten Kinder mit KE können jedoch ganz normal Laufen und viele treiben sogar Sport. Bei vielen Kindern liegt ein sogenanntes Tethered Cord vor. Viele Neurochirurgen raten zu einer prophylaktischen Operation des Tethered Cord, da sie der Meinung sind, dass das TC später, mit zunehmendem Wachstum zu Ausfällen der untersten Nerven des Rückenmarkes führen kann. Obwohl die Operation sehr oft durchgeführt wird, gibt es keine einzige wissenschaftliche Studie nach den Kriterien wirklicher wissenschaftlicher Untersuchungen („Evidence Based Medicine“), die den Nutzen der Operation belegen. Im Gegenteil, es kann durch die Operation auch zu permanenten Schäden des Nervensystems kommen.

Gespaltenes Becken:

Alle Kinder mit KE haben ein gespaltenes Becken. Bei der Erstoperation wird es in der Regel verschlossen, allerdings bleibt immer ein gewisser Spalt zwischen den Schambeinästen erhalten. Probleme macht dies jedoch so gut wie nie.

Anomalien der Beine und Füße:

Selten haben Kinder mit KE auch Fehlbildungen der Beine und Füße. Diese sollten durch einen erfahrenen (Kinder)Orthopäden behandelt werden. Einige Kinder können nur mit zusätzlichen Hilfsmitteln gehen, z.B. wenn ein Bein kürzer ist, oder die Muskulatur eines Beins unterentwickelt ist. Operative Beinverlängerungen können durchgeführt werden.

Andere Organsysteme:

Kinder mit Kloakenekstrophie können auch Probleme anderer Organsysteme haben, z.B. einen Herzfehler etc. In der Regel werden diese bereits kurz nach der Geburt festgestellt und behandelt.

Latexallergie:

Sehr viele Kinder mit KE entwickeln eine Latexallergie. Daher sollten alle Operationen von Anfang an latexfrei erfolgen!

Psychologische Probleme:

Aufgrund der mit der Fehlbildung verbundenen Probleme und Konsequenzen für das spätere Leben und der Belastung durch Operationen und Schmerzen und häufigen Krankenhausaufenthalte, sollten Kinder mit KE aber auch deren Eltern eine psychologische Unterstützung erhalten. An der Kinderchirurgie in Salzburg gibt es einen Psychotherapeuten, der speziell für diese Probleme angestellt ist und viel Erfahrung auf diesem Gebiet hat.

Zusammenfassung

Die KE ist eine sehr schwerwiegende und seltene Fehlbildung, die viele Probleme mit sich bringt. Generell sind drei Organsysteme betroffen: der Harntrakt, der Genitaltrakt und der Enddarm. Zusätzlich kommen andere Fehlbildungen vor, insbesondere im Bereich der untersten Wirbelsäule (Kreuzbein). Die Behandlung ist sehr komplex und schwierig und sollte nur durch einen Arzt erfolgen der ausreichende Erfahrung mit dieser Fehlbildung hat! Eine Not-Operation unmittelbar nach der Geburt ist eigentlich nie notwendig! Leider werden viele Kinder mit KE als Notfall operiert, weil „der Darm offen liegt“. Der „offen liegende Darm“ ist allerdings nichts anderes als ein „natürlicher künstlicher Darmausgang“ im Sinne eines Darmstomas (Anus praeter). Bei ungenügender Erstbehandlung oder einem nicht wirklich durchdachten, zielgerichteten Behandlungsplan können große Nachteile für das Kind entstehen. Oft sind die Probleme die dadurch geschaffen wurden nicht wieder gut zu machen. Eine Geschlechtsumwandlung bei Knaben mit einer KE sollte heutzutage nicht mehr erfolgen. Ziel der Behandlung ist neben der operativen Korrektur der Fehlbildung auch das Ermöglichen von Harn- und Stuhlkontinenz ohne Stomas. Alle Behandlungen sollten zielgerichtet sein und auch Aspekte beinhalten, die wichtig sind, wenn das Kind erwachsen wird, z.B. bezüglich der Genitalfunktion und Fruchtbarkeit (Fertilität). Die Behandlung von Kindern mit KE sollte nur durch einen Arzt erfolgen, der fundierte Erfahrung mit diesem Krankheitsbild hat.

 

Abb. Schema der klassischen Form der KE

 

Mit freundlicher Genehmigung von
Prof. Dr. Dr. Thomas M. Boemers
Kliniken der Stadt Köln gGmbH
Kinderchirurgie und Kinderurologie
Amsterdamer Straße 59
50735 Köln-Riehl
Tel. 0221-89070
e-mail: kontinenz@yahoo.com